Abendtraum (Brief an meine Pflegemutter)
Ein Gedicht von
Marcel Strömer
Abendtraum
Weißt du woran ich gerade denke?
An die Zeit, in der unser Lindenbaum blühte.
In einem weißen Leinentuch hattest du die Lindeblüten eingesammelt.
Deine Hände waren rissig von der schweren Arbeit.
Dein Rücken schmerzte.
Weißt du – ich dachte daran, manchmal war ich fest überzeugt, du seiest eine böse Hexe.
Mit deinen Augen konntest du meine Blicke töten,
meine Gefühle erstickten im Keim.
Deine Stimme bebte drohend laut und erzeugte große Angst in mir.
Aber innerlich weintest du hilflos.
Weißt du – ich wußte, daß ich dich liebe,
doch zugleich haßte ich dich und deine Mauern.
Wie ein Gefängniswärter triebst du mich zur Arbeit,
quältest meine dünne Knabenseele.
Deine Hände konnten kalt strafen und fest.
Unter meinem Schmerz spürte ich deinen Hass.
Jetzt bist du alt geworden und ich denke an die vergangene Zeit unter dem Lindenbaum.
Wie flink und eifrig deine Hände waren.
Jetzt liegen sie bleich in deinem Schoß und suchen nach deinem verlorenen Traum.
Ich floh weit weg von dir, ohne zu wissen, welche Bedeutung es für unsere Herzen hatte.
Weißt du, woran ich gerade denke?
An einen wunderschönen Abendtraum.
Der Wind hat ihn mir zugetragen, obwohl die Herbstblätter ihn fallen ließen.
Und in deinem weißen Leinenbeutel liegen meine Hoffnung und deine Sehnsucht.
Ich halte ihn jetzt fest für dich und lebe.
© Marcel Strömer
(Bremen 1997)
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