Der Hirsch
Ein Gedicht von
Jürgen Wagner
Das Morgenlicht ist schon erwacht,
der Hirsch erhebt sein stolzes Haupt
Die Erde ist noch taubenetzt-
schon geht des neuen Tages Lauf
Sein Ruf hallt weit hinaus ins Land,
er rüstet sich für diesen Tag
in Freiheit, Kraft und aller Würde -
Allein zu sein, das macht auch stark
Er läuft die wohlbekannten Pfade,
er steigt hinauf und stiebt hinab
Kaum einer hindert seine Wege -
zum Wasser zieht es ihn mit Macht
Er kommt zum Lauf des kleinen Flusses
und trinkt das herrlich kühle Nass
So kann das Leben weiter fließen -
braucht wenig Sorgen, keinen Hass
Noch and’re sind im nahen Wald
auf Wiesen und in lichten Höh’n
Sie spüren wohl ein inn'res Band -
so kann das Leben weitergeh’n
Ein tiefes Röhr'n manchmal erschallt
im tiefen, dunklen, wilden Wald
Zur Zeit der Brunft ruft er hinein:
"Hier, hier bin ich und hier ist mein"
So stattlich sein hat seinen Preis,
er trägt ja schwer, frisst viel und kämpft
Verliert bisweilen, blutet auch
und lebt auch mal etwas gedämpft
Der Abend senkt sich in die Fluren,
zum Wald hat er sich aufgemacht
Geschützt und still kaut er das wieder,
was dieser Tag ihm dargebracht
Anm.: Die Hirsche sind - bis auf die Brunftzeit im Herbst - Einzelgänger, während die Hirschkühe im Verband mit den Jungen leben. Ihr mächtiges und schweres Geweih, das ihre ganze Erscheinung bestimmt, wird jedes Frühjahr abgeworfen und muss erst wieder nachwachsen. Da muss der Hirsch bis zu 20 kg am Tag an Gräsern, Rinde, Pilzen und Beeren zu sich nehmen. Die Wissenschaft rätselt bis heute über diesen riesigen Aufwand. Der jährliche Neuaufbau könnte so etwas wie ein internes Regulativ sein: die gewaltige Kraft, Präsenz und Potenz ruft vielleicht nach einem starken Gegengewicht. Oder man entledigt sich wenigstens für ein paar Monate mal dieser Last, die ungefähr einem mit Wasser gefüllten Eimer entspricht, den wir ständig auf dem Kopf trügen.