Die Schattenwanderer

Ein Gedicht von ereguar
Die kleine Drachin, Hina genannt, lebte in einer Höhle. Der Boden bedeckt mit glänzendem Gold, die Wände gehüllt in roten Samt.

So schön ihr die Welt auch lange erschien, spürte sie eine Sehnsucht: Sie konnte sich selbst nicht sehen.

Sie fragte sogleich die kleine Maus: „Hast du eine Idee? Wie komm ich aus diesem Dilemma heraus?“
Die Maus war quirlig und viel unterwegs, erzählte, dass Sie ihr Schatten stets bewegt:
„Wenn ich da draußen, also nicht in der Höhle bin, kommt täglich die Sonne und zeichnet mich hin.“

Vor Freude sprang Hina herum im Kreis. Melodisches Geklimper von Münzen war zu hören und eine neue Weisheit bereit:
„Zur Sonne, ja da muss ich hin - nur um zu sehen, wer ich bin.“


Socken, Schuhe, Hemden und noch viele andere Sachen packte sie in ihren Rucksack rein und ging zum ersten Mal aus der Höhle - in die große Welt hinein.

Doch da draußen war nur Dunkelheit - Kein Licht und keine Schatten weit und breit.


Eine Eule flog Hina entgegen und spürte die Traurigkeit, von der sie umgeben.
„Kleiner Drache, was ist mit dir los? Hier ist doch alles grandios?“

„Lieber Freund, ist dir bekannt, wie zur Sonne man gelangt? Wegen ihr bin ich unterwegs, weiß nur nicht, wie es zu ihr geht:“

„Die Sonne ist nicht ganz so meines, doch habe ich sie schon mal gesehen.
Wenn ich abends aufsteh, seh ich sie meist da drüben.

Ich glaub, du musst Richtung Westen gehen!“

Ohne zu zögern, von Freude übermannt, flog Hina weiter und ihre prächtigen Flügel trugen sie schnell durchs weite Land.

Sie war so schnell dann unterwegs, dass man von Weitem sah, wie sich die Erde in der gleichen Geschwindigkeit, aber in die entgegengesetzte Richtung dreht.


Nach Tagen der Reise, die Hoffnung verloren, machte sie Pause - ihr Herz voller Sorgen.
Ein leises Schluchzen entfleuchte ihr:
„Ach, wäre doch das Glück auch einmal bei mir.“



Ganz nah eine sanfte Stimme war zu verstehen: „Habe ich hier was gehört? ich kann vor Dunkelheit nichts sehen.“
Ein kleiner Drache stand plötzlich neben ihr. Auch er suchte die Sonne hier.

„Junger Drache, unentwegt suche ich das Licht bestrebt. Gen Westen soll die Sonne sein, ich flieg dahin, tagaus tagein.“

„Tut mir leid, da sind wir schon zwei. Ich glaube, die Geschichte mit der Sonne, die war bloß Schwindelei.“

Der kleine Drache, als Baldur bekannt, erzählte, dass es ihm ähnlich erging.
Auch er flog seit Tagen in die gleiche Richtung dahin, doch nirgendwo war sein Schatten zu sehen.


So kamen die beiden ins Gespräch.
Die Trauer verflog und die Stunden vergingen.
Sie hatten sich gern und fingen an, gemeinsam Lieder zu singen.


Kurz darauf war im Osten ein helles Licht, doch die zwei, bemerkten es nicht.
Verliebt sahen sie einander ins Gesicht, man könnte fast meinen, es gebe sonst nichts.

Und als die Sonne nun deutlich am Himmel stand, zeichnete sie ihr Bildnis auf weißen Sand.


Obwohl nun den eigenen Schatten immer noch keiner der beiden sah: Hina und Baldur fühlten sich wunderbar.


Und die Moral von der Geschicht:
Die Sonne ist da, vielleicht siehst du sie nicht.
Und kannst du sie einmal nicht mehr sehen:
Nimm dir Zeit und bleib kurz stehen - die Erde wird sich weiterdrehen.
Genieß den Moment und sei gewiss, sie kommt bald wieder und alles erstrahlt in ihrem Licht.

Informationen zum Gedicht: Die Schattenwanderer

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13.12.2020
Das Gedicht darf unter Angabe des Autoren (ereguar) für private Zwecke frei verwendet werden. Hier kommerzielle Anfrage stellen.
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