Der Geschichtenerzähler
Ein Gedicht von
Christian Penz
Die Sonne versinkt am Horizont
Das Volk verlässt die Arbeitsfront
Sie spazieren - zu zweit oder allein
In die volle Taverne hinein
Das Fass des Bieres wird angestochen
Der Inhalt ölt bald die müden Knochen
Der Duft des Fleisches erfüllt das Haus
Kommt es ja direkt aus der Küche heraus
Die Leute fangen an zu trinken und zu essen
Als wollen sie den Arbeitstag vergessen
Gespräche hört man so gut wie nicht
Nur das Schmatzen im Kerzenlicht
Das letzte Stück Fleisch gegessen
Das Bier schon längst ausgetrunken
Wird sich entspannt hingesessen
Und an der Stuhllehne hinab gesunken
Den Blick auf die Bühne gerichtet
Die am Ende des Raumes steht
Denn es wurde etwas gesichtet
Ein Mann, der auf die Bühne geht
Ein grüner Umhang umhüllt den Leib
Er geht so langsam, als hätte er Zeit
Ein Stab in der Rechten hilft ihm beim Gehen
Die linke Hand ist nur verdeckt zu sehen
Der Hut verbirgt sein Gesicht
Man sieht nur im Kerzenlicht
Die Feder am Hutrand
Dann hebt er die Hand
und begrüßt arm wie reich
Und dann wird sogleich
Ein Stuhl zu ihm auf die Bühne gestellt
Er setzt sich, als trüge er die Last der Welt
Der Mann nimmt den Hut nun ab
Und fängt dann kurz und knapp
Eine Geschichte zu erzählen an
Es war der Anfang einer Heldenreise
Er trägt sie vor in einer Art und Weise
Das jeder nur gespannt zuhören kann
Zuerst wird der Held vorgestellt
und was er tut auf dieser Welt
und der Wunsch, der in ihm blüht
die Sehnsucht, die ihn fast verglüht
Die auch in jedem Zuhörer ist
und an deren öder Seele frisst
Der Wunsch: Abenteuer zu erleben
Dadurch das alte Leben aufzugeben
Schon bei der ersten Heldentat
folgt das Publikum den Pfad
den der Mann ihnen beschreibt
Er erzählt genau und im Detail
und nichts davon wirkt einerlei
sodass kein Geist hier verbleibt
Sie lassen sich ziehen, aus dem Schankraum
Hinein in diesen gemeinsamen Wunschtraum
Der Höhepunkt ist bald erreicht
Mancher ist hier schon erbleicht
und sitzt schweigend wie eine Leiche
denn wie stellt der Held bloß die Weiche
um mit dem Leben davon zu kommen
Mit Gebeten hoffen nun die Frommen
dass alles gut zu Ende gehen würde
und er überwinde diese Lebenshürde
Der Mann auf der Bühne oben
beginnt sich nun auszutoben
und kurz vor dem Heldentod
der hier wird schon angedroht
Just in diesem Augenblick
Welch ein großen Unglück
Sind die Stimmbänder ausgedörrt
Was beim Sprechen freilich stört
Er nippt langsam am Glas
Mit ersichtlichem Spaß
Der Mann beginnt weiter zu erzählen
Er wollte nicht weiter die Leute quälen
Der Held schafft tatsächlich die Wende
zu einem sieg- und erfolgreichen Ende
Jubel und Erleichterung bricht heraus
aus jedem Gast im vollem Gasthaus
Bevor die nächste Geschichte beginnt
bestellt sich so mancher Gast geschwind
noch ein Getränk am Tresen
in des Bardamen- und -mannenohren
denn sie hatten viel Schweiß verloren
als wären sie dabei gewesen
Die Liebe, trotz so manchem Schmerz
Geht doch jedem an das fühlende Herz
sind die ersten Worte, die der Mann spricht
und beginnt damit die neue Abendgeschicht'
Diesmal wird aus einer anderen Sicht
die zweite Geschichte erzählt
Eine Frau tritt jetzt ins Rampenlicht
mit 'nem Entschluss, den sie wählt
Um ihr Dorf zu retten
legt sie sich in Ketten
und bietet sich als Opfergabe dar
Sie will ihr junges Leben
einem Drachen geben
doch passiert noch etwas am Altar
Im geistigen Auge sieht man sie dort stehen
Bei manchen hört man schon das Erflehen
dass sie doch jetzt nicht schon sterben kann
Der Mann hatte die Hörer wieder im Bann
Mit tiefen Fauchen und festen Brüllen
ist der nahende Drache zu hören
Mancher versucht sich einzuhüllen
Kein Atemzug kommt aus den Luftröhren
Das Leben der Frau ist jetzt vorbei
dachte sich schon mancher, wobei
niemand mit den Held gerechnet hat
der nach der letzten Heldentat
ja noch am Leben geblieben ist
welch eine erzählerische Arglist
Niemand im Raum dachte mehr daran
dass es dieselbe Geschichte sein kann
Denn die Frau wurde so detailliert beschrieben
da ist für keinen anderen mehr Platz geblieben
Doch das Leben der Frau ist nicht gerettet
ist sie ja immer noch an den Altar gekettet
von denen der Held sie schnell befreite
was aber nur das Publikum erfreute
Denn als der Held sie mit sich nimmt
Ist die Frau selber sehr angepisst
weil der Drache sicher und bestimmt
alle Dorfbewohner nun auffrisst
Sie kehren in das Dorf zurück
Doch hatte niemand das Glück
noch unter den Lebenden zu sein
Die Trauer übermannt die Frau
der Mann beschreibt sie genau
diese ohnmächtig machende Pein
Im Publikum hört man nur Schweigen
Man sieht auch die Köpfe hinab neigen
Sie bedauern die Toten dort
als wäre es ein realer Ort
Auch mit der Frau können sie mit fühlen
und wie bei laufenden Wassermühlen
rinnen die Tränen über die Wangen
Das Publikum ist so lange gefangen
Solange wie es der Mann auf der Bühne will
Solange bleibt auch das Publikum traurig still
Der Mann und der Held führen die Geschichte fort
weg von diesem unheiligen und toten Ort
und nehmen das Publikum und die Frau mit
Mit jedem widerwillig gegangenen Schritt
verflüchtig sich immer mehr die Traurigkeit
doch wurd' aus ihr mit schreitender Tageszeit
Eine Flamme, die aus der Wut geboren
hat sie ja wegen dem Held alles verloren
Das Publikum ist jedoch zwiegespalten
Was sollte man von der Situation halten?
Zum einen will man, dass sie weiterlebt
aber auch - was jeder Mensch erstrebt -
dass es für alle glücklich zu Ende geht
Jedoch, wie sehr man es auch herumdreht
wird das niemals in der Geschichte geschehen
dass muss auch der größte Optimist eingestehen
Der Mann hat keine persönliche Meinung parat
stattdessen wandert er mit uns über den Geschichtspfad
und präsentierte uns zur Schau
die Gefühle und Sicht der Frau
Wie sehr sie doch den Helden hasst
und wie das Gefühl langsam verblasst
mit jedem Tag, den sie zu zweit begingen
und den gemeinsam erlebten Dingen
Sie erkennt das Gute im Heldenherzen
Es mildert langsam die Verlustschmerzen
Die Liebe ist dann auch erwacht
in einer sternenklaren Nacht
Liebespaare rücken nun näher zusammen
Auch bei ihnen entfachen die Liebesflammen
Erinnern sie sich doch gerade zurück
als sie einst fanden, ihr großes Glück
Mit verliebten Augen schauen sie sich an
Als die nächste Pause im Gasthaus begann
Die Paare kommen an den Tresen
als wär'n sie geschaff'ne Synthesen
und bestellen das Getränk des Anderen
Danach kehren sie zurück zum Platz
wo der Mann mit dem nächsten Satz
wie an all seinen geschichtlichen Abenden
auch den letzten Teil der Geschichte erzählt
Die beiden Helden haben sich nun vermählt
Doch die Eheidylle hält nicht lange
Im Publikum herrscht Angst und Bange
Der Drache ist brüllend wiedergekehrt
Der Held schnappt Schild und Schwert
und will sich dem Drachen entgegenstellen
doch die Ehefrau lässt sich nicht verprellen
Gemeinsam werden sie gegen ihn ziehen
und werden nicht ohne den anderen fliehen
Das Publikum hält den Atem an
Beim Drachenhorst ist es dann geschehen
dass der heldenhafte Ehemann
keinen Halt im Kampf findet, zum Stehen
Der Mann stürzt in die Tiefe hinab
in sein lavadurchströmtes Grab
Trauer erfüllt nicht nur die Frau
Auch das Publikum fühlt genau
was in ihrem Herzen vor sich geht
weil der Mann, der auf der Bühne steht
es wortreich und mitfühlend beschreibt
Und was jetzt auch die Witwe antreibt
Mit sehr viel List und Tücke
sieht sie eine kleine Lücke
im Schuppenpanzer des riesigen Drachen
Mit dem Schwert in der Hand
springt sie aus der Felswand
und vollführt den Hieb vorm Feuerentfachen
Der Drache liegt tot darnieder
Es fährt ihr in die Glieder
Sie ist jetzt ganz allein
Ihr Herz wird zu Stein
Das Publikum ist auch schon betrübt
Jedoch die Hoffnung hat gesiegt
Der Mann kehrt zur Frau zurück
Welch großes freudige Glück
Jubel bricht in der Taverne hervor
Dring bis zu der Bühne empor
an des Mannes weit geöffnetes Ohr
Am nächsten Tag wird noch darüber gesprochen
Während dem alltäglichen und öden Malochen
Und der Philosophie, die dahinter steckt
und in jedem einen anderen Grund erweckt
Was die Geschichte nun bedeuten soll
denn der Mann lächelte nur bedeutungsvoll
So ist die Geschichtenerzählerschar
jeder Mensch ist ihnen ganz dankbar
entführen sie das Volk in eine Traumwelt
von der ein jeder Mensch träumt beseelt
So betet man wie einer der Frommen
dass sie doch bald wieder kommen
auch wenn niemand sie beim Namen nennt
weil niemand sie bei ihrem Namen kennt