Der Baum (anthropomorphes Gedicht)
Ein Gedicht von
Andreas Holleman
Der Baum
Die langsam aus dem samtschwarzen
Hades erwachende Nachsommersonne
wärmt mein goldnes Dach,
trocknet den feuchten Tau
auf meinen bunten Blättern,
sodass sie länger an den Ästen kleben.
Ein zarter Windhauch lässt sie
träge zu Boden schweben.
Dort wo der Nebel ihre
kupferroten Strahlen bricht,
bestäubt sie wie Feenstaub
das Spinnennetz zwischen
meinen Zweigen mit magischem Licht.
Der leuchtend gelbe Postillion
bemerkt die Gefahr zu spät,
das wundersam verwobene
Geflecht wird zu seinem Grab.
Meine Früchte stürzten ins
raschelnde Laub hinab.
Neues Leben von mir gesät.
Ein Eichhörnchen klettert kopfüber
meine zernarbte Borke entlang.
Zu der köstlichen Kastanie,
welche auf dem weichen Moos
gebettet liegt, dass sich in den
starken Arme meines Geästes schmiegt.
Die Wildgänse fliegen mit lautem Geschrei,
unachtsam an mir vorbei.
Das Kaninchen auf der Lichtung
am Waldesssaum wird vom majestätisch
dahin gleitenden König der Lüfte mit
scharfem Blick erspäht.
Nun liegt es sterbend da,
wo ich es gerade noch munter hüpfen sah.
Der Käfer liest die Brailleschrift
auf der geschundenen Rinde, die
mein lebendiges Holz umrahmt.
Wie leuchtende Diamanten rinnen
Harzperlen herunter, schließen die
Wunden auf meinem mächtigen Stamm.
Ihr würziger Duft durchdringt den Raum.
In dem warmen Schatten meiner Krone
singt das Rotkehlchen aus purer Lebenslust
sein schönstes Lied.
Ganz leise fragt die Elfe:
“Warum liebt er mich nicht“...,
ich höre es kaum.
Unwillkürlich krallen sich meine
Wurzeln tiefer in Mutter Erde fest.
Seit Anbeginn der Zeit beobachte ich hier,
unberührbar und stramm, meine Konturen
mit dem mystischen Märchenwald verschmolzen.
Ein ewig währender Traum.
© by A.H.